Der Evolution des „Kleinen Gehirns“ auf der Spur



Bio-News vom 01.12.2023

Die Evolution höherer kognitiver Funktionen beim Menschen wurde bislang hauptsächlich mit der Ausdehnung des Neokortex in Verbindung gebracht. In der Forschung wird jedoch zunehmend deutlich, dass sich das „Kleine Gehirn“ oder Cerebellum während der Evolution ebenfalls ausdehnte und wahrscheinlich zu den einzigartigen menschlichen Fähigkeiten beiträgt.

Ein Heidelberger Forschungsteam hat nun umfassende genetische Karten der Entwicklung von Zellen im Kleinhirn von Mensch, Maus und Opossum erstellt. Im Vergleich offenbaren sie sowohl ursprüngliche als auch artspezifische zelluläre und molekulare Merkmale der Kleinhirnentwicklung.


Position.

Publikation:


Sepp, M., Leiss, K., Murat, F. et al.
Cellular development and evolution of the mammalian cerebellum

Nature (2023)

DOI: 10.1038/s41586-023-06884-x



Die Evolution höherer kognitiver Funktionen beim Menschen wurde bislang hauptsächlich mit der Ausdehnung des Neokortex in Verbindung gebracht – einer Hirnregion, die unter anderem für bewusstes Denken, Bewegung und Sinneswahrnehmung zuständig ist. In der Forschung wird jedoch zunehmend deutlich, dass sich das „Kleine Gehirn“ oder Cerebellum während der Evolution ebenfalls ausdehnte und wahrscheinlich zu den einzigartigen menschlichen Fähigkeiten beiträgt, wie Prof. Dr. Henrik Kaessmann vom Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg erläutert. Sein Forschungsteam hat zusammen mit Prof. Dr. Stefan Pfister vom Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg umfassende genetische Karten der Entwicklung von Zellen im Kleinhirn von Mensch, Maus und Opossum erstellt. Im Vergleich dieser Daten zeigen sich sowohl ursprüngliche als auch artspezifische zelluläre und molekulare Merkmale der Kleinhirnentwicklung in mehr als 160 Millionen Jahren der Säugetierevolution.


Genetische Karten der Entwicklung von Zellen im Kleinhirn von Mensch, Maus und Opossum geben Aufschluss über ursprüngliche wie artspezifische zelluläre und molekulare Merkmale der Kleinhirnentwicklung.

„Obwohl das Kleinhirn, eine Struktur im hinteren Schädel, etwa 80 Prozent aller Neuronen des gesamten menschlichen Gehirns umfasst, galt es lange als eine Hirnregion mit eher einfacher zellulärer Architektur“, erklärt Prof. Kaessmann. In jüngerer Zeit haben sich jedoch Hinweise darauf verdichtet, dass diese Struktur eine ausgeprägte Heterogenität aufweist, so der Molekularbiologe. Die Heidelberger Forscherinnen und Forscher haben nun systematisch alle Zelltypen im sich entwickelnden Kleinhirn von Mensch, Maus und Opossum klassifiziert. Zu diesem Zweck sammelten sie zunächst mithilfe von Einzelzell-Sequenzierung molekulare Profile von fast 400.000 individuellen Zellen. Zum Einsatz kamen außerdem Verfahren, die eine räumliche Zuordnung von Zelltypen ermöglichen.

Auf der Grundlage dieser Daten stellten die Wissenschaftler fest, dass der Anteil an Purkinje-Zellen – große und komplexe Neuronen mit Schlüsselfunktionen im Kleinhirn – im menschlichen Cerebellum in den frühen fötalen Entwicklungsstadien fast doppelt so hoch ist wie bei Maus und Opossum. Diese Zunahme ist vor allem auf spezifische Subtypen von Purkinje-Zellen zurückzuführen, die während der Entwicklung als Erstes entstehen. Sie kommunizieren wahrscheinlich mit neokortikalen Bereichen, die an kognitiven Funktionen im ausgereiften Gehirn beteiligt sind. „Das lädt zu der Annahme ein, dass die Ausdehnung dieser besonderen Purkinje-Zelltypen im Laufe der menschlichen Evolution höhere kognitive Funktionen beim Menschen unterstützt“, erklärt Dr. Mari Sepp, Postdoktorandin in Prof. Kaessmanns Forschungsgruppe „Funktionelle Evolution der Säugetiergenome“.

Mit bioinformatischen Ansätzen verglichen die Forscherinnen und Forscher außerdem die Genexpressionsprogramme in Kleinhirnzellen von Mensch, Maus und Opossum. Diese Programme werden durch die fein abgestimmten Aktivitäten einer Vielzahl von Genen definiert, die bestimmen, zu welchen Typen sich Zellen im Laufe der Entwicklung ausdifferenzieren. Identifiziert wurden dabei Gene mit zelltypspezifischen Aktivitätsprofilen, die seit mindestens etwa 160 Millionen Jahren der Evolution über die Arten hinweg konserviert sind. Das lässt nach den Worten von Henrik Kaessmann darauf schließen, dass sie für grundlegende Mechanismen der Identitätsfindung von Zelltypen im Kleinhirn der Säugetiere wichtig sind. Gleichzeitig identifizierten die Wissenschaftler mehr als 1.000 Gene mit Aktivitätsprofilen, die sich zwischen Mensch, Maus und Opossum unterscheiden. „Auf Ebene der Zelltypen kommt es recht häufig vor, dass Gene neue Aktivitätsprofile erhalten. Das bedeutet, dass ursprüngliche Gene, die in allen Säugetieren zu finden sind, im Laufe der Evolution in neuen Zelltypen aktiv werden, womit sich potentiell auch die Eigenschaften dieser Zellen verändern können“, so Dr. Kevin Leiss, zum Zeitpunkt der Arbeiten Doktorand in der Forschungsgruppe von Prof. Kaessmann.

Unter den Genen, die beim Menschen andere Aktivitätsprofile als bei der Maus – dem am häufigsten verwendeten Modellorganismus in der biomedizinischen Forschung – aufweisen, werden mehrere mit neurologischen Entwicklungsstörungen oder Hirntumoren im Kindesalter in Verbindung gebracht, wie Prof. Pfister erläutert. Der Wissenschaftler ist Direktor am Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg, leitet eine Forschungsabteilung am Deutschen Krebsforschungszentrum und ist als Kinderonkologe am Universitätsklinikum Heidelberg tätig. Die Ergebnisse der Untersuchungen könnten, so Prof. Pfister, wertvolle Orientierungshilfen geben, um über das Mausmodell hinaus nach geeigneten Modellsystemen für die weitere Erforschung solcher Krankheiten zu suchen.

Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht. Neben den Heidelberger Wissenschaftlern waren an den Arbeiten Forscherinnen und Forscher aus Berlin sowie aus China, Frankreich, Großbritannien und Ungarn beteiligt. Der Europäische Forschungsrat hat die Arbeiten finanziert. Die Forschungsdaten sind in einer öffentlichen Datenbank verfügbar.


Diese Newsmeldung wurde mit Material der Universität Heidelberg via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.

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